Ein Arbeitnehmer darf seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt hat
Weist der Arbeitgeber jedoch nach, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdemer in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und–bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses–dementsprechenden Wegfall einer finanziellen Vergütung nicht entgegen.
Der Kläger absolvierte als Rechtsreferendar beim Land Berlin seinen juristischenVorbereitungsdienst. Während der letzten Monate nahmer keinen bezahlten Jahresurlaub. Nachdem Ende des Vorbereitungsdienstes beantragte er eine finanzielle Vergütung für die nichtgenommenen Urlaubstage. Das Land lehnte den Antrag ab. Der Kläger focht daraufhin die Ablehnung vor den deutschen Verwaltungsgerichten an.
Ein weiterer Kläger war bei derMax-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beschäftigt. Etwa zwei Monate vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses bat die Max-Planck-Gesellschaft den Kläger , seinen Resturlaub zu nehmen (ohne ihn jedoch zu verpflichten, den Urlaub zu einem von ihr festgelegten Termin zu nehmen). Der Kläger nur zwei Urlaubstage und beantragte dieZahlung einer Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage, was dieMax-Planck-Gesellschaft ablehnte. Der Kläger wandte sich daraufhin an die deutschen Arbeitsgerichte.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) und das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) möchten wissen, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellenVergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat. Sie haben den Gerichtshof daher ersucht, in diesem Kontext das Unionsrecht auszulegen, wonach der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vierWochen außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütungersetzt werden darf. Mit seinen Urteilen vom 06.11.2018 entscheidet der Gerichtshof, dass das Unionsrechtes nicht zulässt, dass ein Arbeitnehmer die ihm gemäßdem Unionsrecht zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den nichtgenommenen Urlaub automatisch schon allein deshal bverliert,weil er vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses(oder im Bezugszeitraum) keinen Urlaub beantragt hat.
Diese Ansprüche können nur untergehen, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber z.B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, die fraglichen Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen, was der Arbeitgeber zu beweisen hat. Der Arbeitnehmer ist nämlich als die schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses anzusehen. Erkönnte daher davon abgeschreckt werden, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen kann, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirkenkönnen. Ist der Arbeitgeber hingegen in der Lage, den ihm insoweit obliegenden Beweis zu erbringen, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinenUrlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und–bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses– dem entsprechenden Wegfall der finanziellenVergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubnicht entgegen. Jede Auslegung der fraglichen Unionsvorschriften, die den Arbeitnehmer dazu veranlassen könnte, aus freien Stücken in den betreffenden Bezugs-oder zulässigen Übertragungszeiträumen keinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, um seine Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erhöhen, wäre nämlich mit den durch die Schaffung des Rechts aufbezahlten Jahresurlaub verfolgten Zielen unvereinbar. Diese bestehen u.a. darin, zugewährleisten, dass der Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die vorstehenden Grundsätze unabhängig davon gelten, ob es sich um einen öffentlichen Arbeitgeber(wie das Land Berlin) oder einen privaten Arbeitgeber (wie die Max-Planck-Gesellschaft) handelt.
[Quelle: PM des Gerichtshof der Europäischen Union vom 06.11.2018, Urteile in den Rechtssachen C-619/16 und C-684/16]