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Keine Immunität wenn der Arbeitnehmer Aufgaben verrichtet, die nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen

eingetragen von Thilo Schwirtz am August 3rd, 2012

Ein fremder Staat kann sich gegenüber der arbeitsrechtlichen Klage eines Angestellten seiner Botschaft nicht auf seine Immunität berufen, wenn der Angestellte Aufgaben verrichtet, die nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen. Daher kann ein solcher Angestellter die Gerichte des Mitgliedstaats anrufen, in dem sich die betreffende Botschaft befindet.

Herr M., der die algerische und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, arbeitete für den algerischen Staat als Kraftfahrer bei der algerischen Botschaft in Berlin. Er hat vor den deutschen Gerichten Klage gegen  seine Kündigung erhoben und verlangt eine Vergütung. Algerien macht demgegenüber geltend, dass es als fremder Staat in Deutschland von der Gerichtsbarkeit befreit sei; diese Immunität sei durch das Völkerrecht, wonach ein Staat nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterworfen werden könne, anerkannt. Außerdem beruft sich Algerien auf die in dem Arbeitsvertrag zwischen ihm und Herrn M. enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung, der zufolge im Fall von Streitigkeiten ausschließlich die algerischen Gerichte zuständig sind.

In diesem Zusammenhang ersucht das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg den Gerichtshof um Auslegung der Verordnung  Nr. 44/2001, die u. a. Regelungen über die gerichtliche Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge enthält. Diese Regelungen sollen dem Arbeitnehmer als der schwächeren Vertragspartei einen angemessenen Schutz gewährleisten. So kann der Arbeitnehmer den Arbeitgeber, wenn dieser seinen Wohnsitz außerhalb der Europäischen Union hat, vor den Gerichten des Mitgliedstaats verklagen, in  dem sich die „Niederlassung“ dieses Arbeitgebers befindet, in der der Arbeitnehmer seine Arbeit verrichtet.

Mit dem Urteil antwortet der Gerichtshof, dass eine Botschaft eines Drittstaats in einem Mitgliedstaat in  einem Rechtsstreit  über einen Arbeitsvertrag, den diese Botschaft  im Namen des Entsendestaats geschlossen hat,  eine „Niederlassung“ im Sinne der Verordnung darstellt, wenn die von dem Arbeitnehmer verrichteten Aufgaben nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen.

Wie jede andere öffentliche Einrichtung kann eine Botschaft nämlich zivilrechtliche Rechte und Pflichten erwerben bzw. übernehmen. Das ist der Fall, wenn sie Arbeitsverträge mit Personen schließt, die keine hoheitlichen Aufgaben verrichten. Darüber hinaus  kann eine Botschaft einem Mittelpunkt  geschäftlicher Tätigkeit gleichgestellt werden,  der auf Dauer nach außen hervortritt. Außerdem  weist eine  Streitigkeit im Bereich der Arbeitsverhältnisse wie die vorliegende einen hinreichenden Zusammenhang mit dem Betrieb der betreffenden Botschaft in Bezug auf  die Personalangelegenheiten auf.

Soweit sich Algerien auf Immunität beruft, stellt der Gerichtshof klar, dass diese Immunität nicht absolut gilt. Sie ist allgemein anerkannt, wenn der Rechtsstreit hoheitliche Handlungen betrifft. Sie kann hingegen ausgeschlossen sein, wenn sich der gerichtliche Rechtsbehelf  auf Handlungen bezieht, die nicht unter die hoheitlichen Befugnisse fallen.

Daher steht der völkerrechtliche Grundsatz der Staatenimmunität der Anwendung der Verordnung Nr. 44/2001 nicht entgegen, wenn es um einen Rechtsstreit geht, in dem sich ein Arbeitnehmer gegen die Kündigung seines mit einem Staat geschlossenen Arbeitsvertrags wehrt, zu dem das angerufene Gericht feststellt, dass die von diesem Arbeitnehmer verrichteten Aufgaben nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen.

Was die in den Arbeitsvertrag von Herrn M. aufgenommene Klausel angeht, wonach im Fall von Streitigkeiten ausschließlich die algerischen Gerichte zuständig sind, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Verordnung Nr. 44/2001 die Möglichkeit beschränkt, von den in ihr enthaltenen Zuständigkeitsvorschriften abzuweichen. Eine vor Entstehung der Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung darf den Arbeitnehmer nicht an der Anrufung der Gerichte hindern, die nach den Sonderbestimmungen dieser Verordnung für individuelle  Arbeitsverträge zuständig  sind. Andernfalls würde nämlich das Ziel, den Arbeitnehmer als schwächere Vertragspartei zu schützen, verfehlt.

Folglich kann eine vor Entstehen einer Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung lediglich dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eröffnen, außer den nach der Verordnung Nr. 44/2001 normalerweise zuständigen Gerichten andere  Gerichte, und zwar gegebenenfalls auch Gerichte außerhalb der Union, anzurufen.

[Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union, PRESSEMITTEILUNG Nr. 103/12 v. 19. Juli 2012]

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil in der Rechtssache C-154/11

Ahmed Mahamdia ./. Algerien