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EGMR: Kündigung von Kirchenangestellten wegen Ehebruchs

eingetragen von Thilo Schwirtz am Oktober 4th, 2010

Zum Sachverhalt:

Beide Fälle [Obst gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 425/03) und Schüth gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 1620/03)] betrafen die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch einen kirchlichen Arbeitgeber wegen eines außerehelichen Verhältnisses des Arbeitnehmers. Der Gerichtshof befasste sich zum ersten Mal mit der Kündigung von Kirchenangestellten aufgrund von Handlungen, die dem Privatleben zuzuordnen sind.

Michael O. (Kläger) ist deutscher Staatsbürger. Er wuchs als Mormone auf und heiratete 1980 diesem Glauben entsprechend. Nach einer Reihe von Tätigkeiten in der Mormonenkirche wurde er 1986 deren Gebietsdirektor Öffentlichkeitsarbeit für Europa. Anfang Dezember 1993 wandte er sich mit der Bitte um Rat an seinen zuständigen Seelsorger und vertraute ihm an, dass es mit seiner Ehe seit Jahren bergab gehe und er ein außereheliches Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt habe; dem Rat des Seelsorgers folgend sprach er schließlich mit seinem Dienstvorgesetzten über die Angelegenheit. Dieser informierte ihn wenige Tage später über seine fristlose Kündigung. Herr Michael O. wurde später in einem internen Disziplinarverfahren exkommuniziert.

Herr Michael O. klagte vor dem Arbeitsgericht Frankfurt gegen seine Kündigung, die das Gericht mit Urteil vom Januar 1995 für ungültig erklärte. Das Landesarbeitsgericht Hessen bestätigte das Urteil zunächst, das Bundesarbeitsgericht hob es aber auf und verwies den Fall zurück. Nach Auffassung des  Bundesarbeitsgerichts hatte der KLäger  die aus seinem Arbeitsvertrag resultierenden Pflichten verletzt.  Das Gericht bezog sich außerdem auf ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 zur Wirksamkeit von Kündigungen kirchlicher Mitarbeiter wegen der Verletzung von Loyalitätspflichten. Kirchliche Arbeitgeber hätten demnach das Recht, Arbeitsverhältnisse eigenständig zu regeln, Arbeitsgerichte seien allerdings an die religiösen und moralischen Maßstäbe der Kirchen nur insoweit gebunden, als diese nicht mit den Grundsätzen der Rechtsordnung in Konflikt stünden. Die von der Mormonenkirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue widerspreche der Rechtsordnung aber nicht, da der Ehe im deutschen Grundgesetz auch eine herausragende Bedeutung zukomme. Die Kündigung sei für die Kirche notwendig gewesen, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren, die angesichts von Michael O. Verantwortlichkeiten als Gebietsdirektor Öffentlichkeitsarbeit für Europa in Frage gestanden habe. Im Übrigen sei die Kirche nicht verpflichtet gewesen, eine vorherige Abmahnung auszusprechen, da der Kläger  im Anbetracht seiner langjährigen Tätigkeit für die Kirche die Schwere seines Fehlverhaltens habe bewusst sein müssen. Nach der Zurückverweisung wies das Landesarbeitsgericht die Klage  im Januar 1998 ab.

Die Revision zum Bundesarbeitsgericht blieb erfolglos. Im Juni 2002 entschied das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf sein Grundsatzurteil vom 4. Juni 1985, die Verfassungsbeschwerde des Herrn Michael O. nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Herr Bernhard S. (Kläger) ist deutscher Staatsbürger, er war seit Mitte der 1980er Jahre in einer katholischen Pfarrgemeinde als Organist und Chorleiter angestellt, als er sich 1994 von seiner Frau trennte. Von 1995 an lebte er mit seiner neuen Partnerin zusammen. Nachdem seine Kinder im Kindergarten davon gesprochen hatten, dass Bernhard S. wieder Vater werden würde, führte der Dekan der Gemeinde im Juli 1997 zunächst ein Gespräch mit ihm. Wenige Tage später sprach die Gemeinde seine Kündigung mit Wirkung ab April 1998 aus, da er gegen die Grundordnung der Katholischen Kirche für den kirchlichen Dienst im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse verstoßen habe. Indem er außerhalb der von ihm geschlossenen Ehe mit einer anderen Frau zusammenlebte, die von ihm ein Kind erwartete, habe er nicht nur Ehebruch begangen, sondern sich auch der Bigamie schuldig gemacht.

Herr Bernhard S. klagte vor dem Arbeitsgericht Essen gegen seine Kündigung, die das Gericht mit Urteil vom Dezember 1997 für ungültig erklärte. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf bestätigte das Urteil zunächst, aber das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil auf und verwies den Fall zurück. Nach Auffassung des  Bundesarbeitsgerichts hätte das Landesarbeitsgericht den Dekan der Gemeinde anhören müssen, um festzustellen, ob dieser in einem persönlichen Gespräch versucht hatte, Herrn Bernhard S. zur Beendigung seines außerehelichen Verhältnisses zu bewegen. Das Gericht bezog sich auf das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts und unterstrich, dass die von der Katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue der Rechtsordnung nicht widerspreche.

Nach der Zurückverweisung wies das Landesarbeitsgericht die Klage Herrn Bernhard S. im Februar 2000 ab. Es befand, dass der Dekan angesichts der Entschlossenheit Herrn Bernhard S., seine neue Beziehung aufrechtzuerhalten, berechtigterweise habe annehmen können, dass eine Abmahnung überflüssig sei. Nach Auffassung des Gerichts habe die Gemeinde Herrn Bernhard S. nicht ohne den Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit weiter beschäftigen können, da seine Tätigkeit in enger Verbindung mit der kirchlichen Mission gestanden habe.

Die Revision zum Bundesarbeitsgericht blieb erfolglos. Im Juli 2002 entschied das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf sein Grundsatzurteil vom 4. Juni 1985, die Verfassungsbeschwerde Herrn Bernhard S. nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs:

Unter Berufung auf Artikel 8 beklagten sich beide Beschwerdeführer über die Weigerung der deutschen Arbeitsgerichte, ihre Kündigung aufzuheben.

Die Beschwerde des Herrn Michael O. wurde am 2. Januar 2003, die Beschwerde Herrn Bernhard S. am 11 Januar 2003 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Im Fall  Michael  O. gab die Mormonenkirche, im Fall Bernhard S. die Katholische Diözese Essen als Drittpartei eine schriftliche Stellungnahme ab.

In beiden Fällen hatte der Gerichtshof darüber zu befinden, ob die von den deutschen Arbeitsgerichten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 einerseits und den Konventionsrechten der Katholischen Kirche und der Mormonenkirche andererseits den Beschwerdeführern einen ausreichenden Kündigungsschutz gewährt hatte. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Eigenständigkeit von Religionsgemeinschaften gegen unzulässige staatliche Einmischung nach Artikel 9 (Religionsfreiheit) in Verbindung mit Artikel 11 (Vereinigungsfreiheit) geschützt war.

Mit seinen Arbeitsgerichten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfassungsgericht erfüllte Deutschland im Grundsatz die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeitsrechtlichen Streitfällen. In den beiden vorliegenden Fällen hatten die Beschwerdeführer vor einem Arbeitsgericht geklagt, das dazu befugt war, über die Wirksamkeit ihrer Kündigung nach staatlichem Arbeitsrecht unter Berücksichtigung des kirchlichen Arbeitsrechtes zu entscheiden. In beiden Fällen war das Bundesarbeitsgericht zu der Auffassung gelangt, dass die von der Mormonenkirche und der Katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue der Rechtsordnung nicht widerspreche.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die deutschen Arbeitsgerichte im Fall Michael O. alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falls berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen hatten. Sie hatten herausgestellt, dass die Mormonenkirche erst dadurch in die Lage versetzt war, Herrn Michael O. aufgrund von Ehebruch zu kündigen, dass er die Kirche aus eigener Initiative darüber informiert hatte. Nach Auffassung der deutschen Gerichte kam seine Kündigung einer notwendigen Maßnahme gleich, um die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren, insbesondere angesichts seiner hervorgehobenen Position. Weiterhin waren die Gerichte darauf eingegangen, warum die Kirche nicht verpflichtet war, eine vorherige Abmahnung auszusprechen, und sie hatten darauf hingewiesen, dass der Schaden für Herrn Michael O. durch die Kündigung, unter anderem in Anbetracht seines noch relativ jungen Alters, begrenzt war.

Die Tatsache, dass die deutschen Gerichte den Interessen der Mormonenkirche nach sorgfältiger Abwägung ein größeres Gewicht eingeräumt hatten als denen Herrn Michael O. , stand nicht an sich in Konflikt mit der Konvention. Der Gerichtshof fand die Schlussfolgerung der deutschen Gerichte nachvollziehbar, dass die Mormonenkirche Herrn Michael O. keine unannehmbaren Verpflichtungen auferlegt hatte. Da er als Mormone aufgewachsen war, war er sich darüber im Klaren gewesen, oder hätte es sein sollen, welche Bedeutung die eheliche Treue für seinen Arbeitgeber hatte und dass sein außereheliches Verhältnis mit den erhöhten Loyalitätspflichten als Direktor Öffentlichkeitsarbeit für Europa unvereinbar war.

Im Gegensatz dazu merkte der Gerichtshof im Fall Bernhard S. an, dass sich das Landesarbeitsgericht darauf beschränkt hatte festzustellen, dass er als Organist und Chorleiter zwar nicht in die Gruppe derjenigen Mitarbeiter fiel, deren Kündigung im Falle schweren Fehlverhaltens zwangsläufig war, etwa derjenigen in seelsorgerischen und klerikalen Berufen sowie in leitenden Positionen, aber dass seine Tätigkeit dennoch so eng mit der Mission der Katholischen Kirche verbunden war, dass sie ihn nicht weiter beschäftigen konnte, ohne jegliche Glaubwürdigkeit zu verlieren. Das Landesarbeitsgericht hatte dieses Argument nicht weiter ausgeführt, sondern schien lediglich die Meinung des kirchlichen Arbeitgebers in dieser Frage wiedergegeben zu haben.

Zudem hatten die Arbeitsgerichte das de facto-Familienleben Herrn Bernhard S. oder dessen Schutz nicht einmal erwähnt. Die Interessen des kirchlichen Arbeitgebers waren folglich nicht gegen Herrn Bernhard S. Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens abgewogen worden, sondern lediglich gegen sein Interesse, seinen Arbeitsplatz zu behalten. Eine gründlichere Prüfung wäre bei der Abwägung der konkurrierenden Rechte und Interessen angemessen gewesen.

Zwar erkannte der Gerichtshof an, dass Herr Bernhard S., indem er seinen Arbeitsvertrag unterzeichnet hatte, gegenüber der Katholischen Kirche eine Loyalitätsverpflichtung eingegangen war, die sein Recht auf Achtung des Privatlebens in gewissem Maße einschränkte. Seine Unterzeichnung des Vertrages konnte aber nicht als eindeutiges Versprechen verstanden werden, im Fall einer Trennung oder Scheidung ein enthaltsames Leben zu führen. Die deutschen Arbeitsgerichte hatten kaum berücksichtigt, dass es keine Medienberichterstattung über seinen Fall gegeben hatte und dass er, nach 14 Jahren im Dienst der Gemeinde, die Position der Katholischen Kirche offenbar nicht angefochten hatte.

Die Tatsache, dass ein von einem kirchlichen Arbeitgeber gekündigter Mitarbeiter nur begrenzte Möglichkeiten hatte, eine neue Stelle zu finden, war nach Auffassung des Gerichtshofs von besonderer Bedeutung. Dies galt besonders, wenn der gekündigte Arbeitnehmer eine spezifische Qualifikation hatte, die es ihm schwierig oder gar unmöglich machte, eine neue Arbeit außerhalb der Kirche zu finden, wie im Fall von Herrn Bernhard S. , der nunmehr einer Teilzeitbeschäftigung in einer evangelischen Gemeinde nachging. In diesem Zusammenhang merkte der Gerichtshof an, dass die Vorschriften der Evangelischen Kirche für die Beschäftigung von Nichtmitgliedern der Kirche vorsahen, dass diese nur in Ausnahmefällen und nur im Rahmen einer Zusatzbeschäftigung angestellt werden konnten.

Der Gerichtshof befand, dass die Abwägung der deutschen Arbeitsgerichte zwischen den Rechten Herrn Bernhard S. und denen des kirchlichen Arbeitgebers nicht in Übereinstimmung mit der Konvention vorgenommen worden war.

Der Gerichtshof kam jeweils einstimmig zu dem Schluss, dass im Fall Michael O. keine Verletzung von Artikel 8 vorlag und dass im Fall Bernhard S. eine Verletzung von Artikel 8 vorlag.

Gerechte Entschädigung

Der Gerichtshof befand, dass die Frage der Anwendung von Artikel 41 (gerechte Entschädigung) im Fall Bernhard S. noch nicht reif für eine Entscheidung war und zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werden würde. Die Parteien haben Gelegenheit, binnen drei Monaten nach Verkündung des Urteils zu einer diesbezüglichen Einigung zu gelangen.

[Quelle: PM des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vom 23. 09. 2010]

Artikel 8 Europäische Menschenrechtskonvention
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer

Artikel 9  Europäische Menschenrechtskonvention
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.