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BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 21.3.2012, 4 AZR 254/10

eingetragen von Thilo Schwirtz am Oktober 19th, 2012

Eingruppierung eines Kontrollschaffners gemäß Lohntarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen – Tarifvertragsauslegung

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 26. März 2010 – 8 Sa 1204/09 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die zutreffende Eingruppierung der Klägerin und daraus erwachsene Entgeltdifferenzansprüche.
2
Zwischen den Parteien bestand vom 15. Februar 2007 bis zum 15. August 2009 ein Arbeitsverhältnis. Die Klägerin war als Kontrollschaffnerin bei der Beklagten beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien galten die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen, die überdies im Arbeitsvertrag der Parteien in Bezug genommen worden waren.
3
Der Klägerin waren als Kontrollschaffnerin folgende Aufgaben übertragen worden:
„-
Durchführung von Fahrausweisprüfungen nach erfolgter Kontrollschaffnerausbildung
Berechtigung und Verpflichtung zur Entgegennahme des erhöhten Beförderungsentgelts nach Maßgabe der Beförderungsbedingungen der R bei Zahlungswillen des Kunden
Überwachung der Einhaltung der Allgemeinen Beförderungsbedingungen
Aktiver Dienst am Kunden in Form der Erteilung von Auskünften zu Verkehrsverbindungen, Tarifen und Örtlichkeiten sowie die Leistungs- und Hilfestellung gegenüber allen, insbesondere mobilitätsbehinderten Kunden
Hilfestellung bei der Bedienung von Ticketautomaten
Erkennen und Melden von Gefahrenzuständen“
4
In den Monaten April und Mai 2009 arbeitete die Klägerin 80 Arbeitsstunden, für die sie von der Beklagten mit je 9,14 Euro vergütet wurde. Mit Schriftsatz vom 13. Juli 2009 machte die Klägerin ua. für diesen Zeitraum Entgelt nach der Lohngruppe 2.0.4 des Lohntarifvertrages für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 17. April 2008, in Kraft ab 1. Mai 2008, (LTV NRW 2008) mit einem Stundengrundlohn von 10,45 Euro geltend.
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Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie habe im Streitzeitraum Anforderungen des Tätigkeitsmerkmales der Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008 erfüllt. Sie sei als „Kontrolleurin im Außendienst“ beschäftigt gewesen. Ihr stünden deshalb für den Streitzeitraum Entgeltdifferenzen in Höhe von – rechnerisch unstreitig – insgesamt 104,80 Euro zu.
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Die Klägerin hat, soweit für die Revision von Bedeutung, beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 104,80 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. Juni 2009 zu zahlen.
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Die Beklagte hat ihren Klageabweisungsantrag damit begründet, dass die Klägerin die Anforderungen des Tätigkeitsmerkmales der Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008 nicht erfüllt habe. Wie sich aus der Systematik des Tarifvertrages und der Tarifgeschichte ergebe, beinhalte die Anforderung der „Kontrolle im Außendienst“ die Wahrnehmung von Vorgesetztenfunktionen und sei allein auf die Kontrolle von anderen Arbeitnehmern des Arbeitgebers beschränkt. Sie erstrecke sich nicht auf eine Tätigkeit für einen externen Auftraggeber.
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Das Arbeitsgericht hat der Klage, soweit der Anspruch noch streitig ist, stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die vom Arbeitsgericht zugelassene und hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiter. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.

Entscheidungsgründe

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Die Revision der Beklagten bleibt erfolglos.
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I. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage für begründet gehalten. Das Arbeitsgericht habe sich zu Recht auf die Ausführungen des Senats im Urteil vom 25. Februar 2009 (- 4 AZR 41/08 – Rn. 24 ff., BAGE 129, 355) bezogen und der Klage stattgegeben. Ein Kontrollschaffner führe dem Wortlaut nach „Kontrolldienst im Außenbereich“ durch. Eine Einschränkung dahingehend, dass dieser Begriff sich lediglich auf Arbeitnehmer beziehe, die selbst beim jeweiligen Arbeitgeber angestellt seien, lasse sich dem Tarifwortlaut nicht entnehmen. Zwar sei der Beklagten zuzugeben, dass das weitere Tätigkeitsmerkmal dieser Lohngruppe im LTV NRW 2008 („Schichtführer im Revierwachdienst“) mit einer Vorgesetztenfunktion verbunden sei und im Regelfall davon auszugehen sei, dass die Tarifvertragsparteien von der Gleichwertigkeit von Tätigkeiten innerhalb einer Lohngruppe ausgingen. Diese bestimme sich vorliegend aber nicht zwingend allein danach, ob mit ihnen Vorgesetztenfunktionen verbunden seien. Der Wert der Tätigkeit sei auch durch andere Kriterien geprägt, wie etwa der Grad an Verantwortung des Mitarbeiters, die intellektuellen Anforderungen der Arbeit, ihre Risikoträchtigkeit und ihre Bedeutung für die Außendarstellung des Auftraggebers. Es sei nicht Aufgabe der Gerichte, ihre eigenen Wertigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen der hierzu berufenen Tarifvertragsparteien zu setzen.
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II. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat den Anspruch der Klägerin rechtsfehlerfrei bejaht.
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1. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien galten im Streitzeitraum April und Mai 2009 der allgemeinverbindliche LTV NRW 2008 und der Lohntarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 11. Mai 2009 (LTV NRW 2009). Der LTV NRW 2008 war zum 30. April 2009 gekündigt worden. Zum 1. Mai 2009 trat der LTV NRW 2009 in Kraft und wurde im Nachhinein rückwirkend ab Inkrafttreten für allgemeinverbindlich erklärt.
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2. Der LTV NRW 2008, der auch für die Eingruppierung der Klägerin maßgebend ist, enthält dazu folgende Regelungen:
„1.
Geltungsbereich
Dieser Tarifvertrag gilt:
fachlich:
für alle Betriebe des Bewachungs- und Sicherheitsgewerbes sowie für alle Betriebe, die Kontroll- und Ordnungsdienste betreiben, …
persönlich:
für alle in diesen Betrieben tätigen gewerblichen Arbeitnehmer.
2.
Löhne
2.0. Die Löhne betragen
A
EUR ab 01.05.2008
2.0.4.
Kontrolleure im Außendienst und Schichtführer im Revierwachdienst
Stunden-Grundlohn
10.45
2.0.10
Beschäftigte in der Bewachung in Verkehrsmitteln des öffentlichen Personennah- und -fernverkehrs, sowie Mitarbeiter im Ordnungsdienst in Bahnhöfen
Stunden-Grundlohn
11,04
B
2.0.18
Sicherheitsmitarbeiter im Kontroll-, Ordnungs- und Informationsdienst bei Messen und Veranstaltungen
Stunden-Grundlohn
8,02“
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Der LTV NRW 2009 ist hinsichtlich der Formulierung der hier interessierenden Tätigkeitsmerkmale nahezu identisch. Er unterscheidet sich, soweit erheblich, lediglich hinsichtlich der Arbeitsentgelthöhe, die für den Zeitraum „ab 01.07.2009“, also Zeiten nach dem Streitzeitraum, leicht erhöhte Beträge vorsieht.
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3. Die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit erfüllte die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmales der Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008.
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a) Die Auslegung eines Tarifvertrages durch das Berufungsgericht ist in der Revisionsinstanz in vollem Umfang nachzuprüfen (BAG 19. September 2007 – 4 AZR 670/06 – Rn. 30, BAGE 124, 110). Dabei folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln (näher dazu zB BAG 7. Juli 2004 – 4 AZR 433/03 – BAGE 111, 204; 30. Mai 2001 – 4 AZR 269/00 – BAGE 98, 35, jeweils mwN).
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b) Die Tätigkeit der Klägerin erfüllt das Tätigkeitsmerkmal „Kontrolleure im Außendienst“ der Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008. Dies hat der Senat für einen ebenfalls bei der Beklagten beschäftigten Kontrollschaffner mit einem wörtlich identischen Tätigkeitsbereich bereits entschieden (BAG 25. Februar 2009 – 4 AZR 41/08 – Rn. 32, BAGE 129, 355). Hiervon abzuweichen geben auch die weiteren Erwägungen der Beklagten keinen Anlass.
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aa) Die Tätigkeit der Klägerin ist eine Kontrolltätigkeit iSd. tariflichen Regelung.
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(1) Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 25. Februar 2009 (- 4 AZR 41/08 – Rn. 25 ff., BAGE 129, 355) ausgeführt hat, hat der Begriff der „Kontrolle“ mehrere Bedeutungen und ist im vorliegenden Zusammenhang als „Überwachung“ und „Prüfung“ zu verstehen (vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch 5. Aufl. Stichworte „Kontrolle“, „Kontrolleur“ und „kontrollieren“). „Überwachung“ meint ua. „Kontrollieren“ (vgl. Wahrig Deutsches Wörterbuch 8. Aufl. Stichworte „überwachen“ und „Überwachung“) und ist in dieser Bedeutung darauf gerichtet, „dass in einem bestimmten Bereich alles mit rechten Dingen zugeht“ (vgl. Duden Stichwort „überwachen“), also die Regeln eingehalten werden. Beispielsweise werden Fahrkarten bzw. Fahrscheine überprüft und kontrolliert (vgl. Wahrig Stichworte „Kontrolle“ und „kontrollieren“). Die Kontrolltätigkeit geht jedoch auch über die Bewachung hinaus. So erfordert sie ein aktives Zugehen auf die Fahrgäste und deren Ansprechen zum Zweck der Kontrolle. Es reicht nicht aus, sie zu beobachten und nur anlassbezogen einzugreifen.
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(2) Dem Begriff der „Kontrolle“ unterfiel die Tätigkeit der Klägerin insbesondere beim „Durchführen von Fahrausweisprüfungen“ und der sich daraus teilweise ergebenden „Entgegennahme des erhöhten Beförderungsentgelts“. Dem entspricht in zweifachem Sinne auch die Berufsbezeichnung als „Kontrollschaffner“, denn auch ein „Schaffner“ ist jemand, „der in öffentlichen Verkehrsmitteln Fahrausweise verkauft, kontrolliert“ (Duden Stichwort „Schaffner“). Damit standen die genannten Tätigkeiten im Mittelpunkt der arbeitsvertraglichen Aufgaben der Klägerin und gaben ihr das Gepräge.
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(3) Im Übrigen gehört auch der festgestellte Tätigkeitsaspekt „Erkennen und Melden von Gefahrenzuständen“ zum Bereich der Überwachung und Kontrolle. Lediglich das Erteilen von Auskünften und verschiedenen Hilfestellungen für Kunden ist nicht unmittelbar der „Kontrolle“ zuzurechnen.
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bb) Die Kontrolltätigkeit der Klägerin wurde auch „im Außendienst“ durchgeführt.
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(1) Der Begriff des „Außendienstes“ umfasst viele Tätigkeitsorte. Er ist nur durch den Gegenbegriff des „Innendienstes“ begrenzt. Als „Kontrolleur im Außendienst“ ist deshalb jede Tätigkeit von Kontrolleuren anzusehen, die nicht im Innendienst verrichtet wird und für die es keine spezielle Regelung gibt (BAG 25. Februar 2009 – 4 AZR 41/08 – Rn. 32, BAGE 129, 355).
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(2) Für die Tätigkeit einer Kontrollschaffnerin gibt es im LTV NRW 2008 keine – andere – spezielle Regelung. Soweit die Beklagte hier auf die in der Lohngruppe 2.0.18 LTV NRW 2008 aufgeführten Anforderungen verweist, ist diese offenkundig nicht einschlägig (BAG 25. Februar 2009 – 4 AZR 41/08 – Rn. 31, BAGE 129, 355). Eine Kontrollschaffnerin ist nicht als „Sicherheitsmitarbeiter im Kontroll-, Ordnungs- und Informationsdienst bei Messen und Veranstaltungen“ tätig. Ebenso wenig ist das Tätigkeitsmerkmal der Lohngruppe 2.0.10 LTV NRW 2008 einschlägig; dies hat der Senat für eine identische Tätigkeit bereits entschieden (vgl. BAG 25. Februar 2009 – 4 AZR 41/08 – Rn. 20 ff., aaO).
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c) Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass dem Begriff der Kontrolle im Tätigkeitsmerkmal der Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008 aus systematischen Gründen die Einschränkung zu entnehmen sei, sie beziehe sich lediglich auf Arbeitnehmer der Beklagten selbst und beinhalte damit die Notwendigkeit einer Vorgesetztenfunktion.
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aa) Die Beklagte begründet diesen Einwand damit, dass in der Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008 nicht nur „Kontrolleure im Außendienst“, sondern auch „Schichtführer im Revierwachdienst“ aufgeführt seien. Die grundsätzlich anzunehmende Gleichwertigkeit aller in einer einheitlichen Lohngruppe genannten Tätigkeiten könne nur dann gewahrt sein, wenn auch die Kontrolleure im Außendienst Vorgesetztenfunktion und Personalaufgaben hätten. Demnach sei der Tarifbegriff der „Kontrolle im Außendienst“ dahin auszulegen, dass die dort genannte Kontrolltätigkeit sich allein auf die Mitarbeiter des Arbeitgebers selbst beziehe und nicht auf externe Auftraggeber.
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bb) Diese Auffassung ist unzutreffend.
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(1) Das folgt bereits aus methodisch-systematischen Überlegungen. Wenn eine Entgeltordnung zwei konkrete Tätigkeiten nebeneinander in einer Lohngruppe aufführt, sind sie jeweils in ihrer konkreten Formulierung auf die Übereinstimmung mit den Anforderungen an die Tätigkeit des betroffenen Arbeitnehmers zu überprüfen. Wenn die konkreten, im Tarifvertrag benannten Tätigkeiten nicht als Richtbeispiele für die Erfüllung allgemeiner Anforderungen gekennzeichnet sind, verbietet es sich im Grundfall, zur Auslegung des einen Tätigkeitsmerkmales die dem anderen Tätigkeitsmerkmal innewohnenden abstrakten Anforderungen herauszuarbeiten und zusätzlich als – im Wortlaut nicht genannte – weitere Voraussetzung an das erste Tätigkeitsmerkmal anzulegen.
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(2) Dies bedeutet konkret, dass die grundsätzlich zu unterstellende Gleichwertigkeit der in einer Lohngruppe zusammengefassten Tätigkeiten von den Tarifvertragsparteien im Wortlaut der Tätigkeitsanforderungen abschließend zum Ausdruck gebracht wird und nicht im Nachhinein einer – entscheidungserheblichen – Kontrolle durch die Arbeitsgerichte unterzogen werden darf. Hierfür müssten die für die Tarifvertragsparteien maßgebenden Wertigkeitskriterien klar formuliert und zweifelsfrei als – ggf. zusätzliche – Anforderung an die einzelne tariflich zugeordnete Tätigkeit erkennbar sein. Die Tarifvertragsparteien haben es selbst in der Hand, eine von ihnen gemeinsam für mehrere Tätigkeitsmerkmale vorausgesetzte Anforderung in einer Weise zu formulieren, dass sie auch für Außenstehende, insbesondere Tarifunterworfene und Arbeitsgerichte, klar erkennbar ist. So wird etwa ein tarifliches Tätigkeitsmerkmal häufig durch einen allgemeinen Oberbegriff und konkrete Richtbeispiele bestimmt, deren Verhältnis zueinander im Tarifvertrag selbst bestimmt werden kann. Ergibt sich die Anforderung jedoch nicht aus dem Wortlaut des Tarifvertrages und ist sie auch nicht – zwingend – aus der Systematik zu schließen, kann sie bei der Auslegung des Tarifvertrages keine Berücksichtigung finden, selbst wenn sie – wie von der Beklagten behauptet, aber in keiner Weise belegt – von den Tarifvertragsparteien „eigentlich“ einbezogen werden sollte.
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(3) Im Streitfall kommt hinzu, dass sich eine Reihe anderer Faktoren aufdrängt, die die von der Beklagten zugrunde gelegte „Gleichwertigkeit“ der beiden in Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008 genannten Tätigkeiten begründen kann. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, wird die Wertigkeit einer Arbeit nach Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 2008 nicht notwendig allein danach bemessen, dass mit ihrer Ausübung eine Vorgesetztenfunktion verbunden ist. Dies mag für das Tätigkeitsmerkmal des Schichtführers im Revierwachdienst von den Tarifvertragsparteien so gesehen worden sein. Ein Kontrolleur im Außendienst hat diese Vorgesetztenfunktion nicht zwingend. Die Tarifvertragsparteien mögen hier jedoch andere Arbeitsanforderungen bewertet haben, die ihrerseits bei einem Schichtführer im Revierwachdienst nicht notwendig gegeben sein müssen. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit zu Recht beispielhaft angeführt, dass bei der Tätigkeit von Kontrollschaffnern ein höherer Grad des Tragens von Verantwortung erforderlich sein kann, zB für das durch die Inkassotätigkeit eingenommene erhöhte Beförderungsentgelt. Auch die intellektuellen Anforderungen der Arbeit, zB im Zusammenhang mit der Beherrschung des Systems unterschiedlicher Fahrausweise und Beförderungstarife im öffentlichen Personennahverkehr oder der Funktionsweise von Fahrscheinautomaten können hier von den Tarifvertragsparteien gesondert bewertet worden sein. Ferner kann – wie das Landesarbeitsgericht ebenfalls zutreffend ausführt – die Risikoträchtigkeit in der Kontrolle im Außendienst eine Rolle spielen, zB bei der Überprüfung von Schwarzfahrern, die ein nicht unerhebliches Maß an Flexibilität und psychologischem Einfühlungsvermögen verlangen kann. Auch die Bedeutung der Kontrollschaffnertätigkeit für die Außendarstellung des Verkehrsunternehmens im Hinblick auf Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber dem Fahrgast mag einbezogen worden sein.
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Dass diese oder andere besondere Arbeitsanforderungen in dem hier interessierenden Tätigkeitsmerkmal nicht ausdrücklich genannt worden sind, spricht nicht gegen ihre in dem Tätigkeitsmerkmal enthaltene Berücksichtigung durch die Tarifvertragsparteien. Denn eine systematische Abbildung der bewerteten Arbeitsanforderungen ist auch den sonstigen Tätigkeitsmerkmalen des LTV NRW 2008 nicht zu entnehmen.
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(4) Schließlich ist auch den sonstigen Tätigkeitsmerkmalen des LTV NRW 2008 nicht zu entnehmen, dass die Lohngruppen gänzlich oder teilweise nach der jeweiligen Personalverantwortung der Arbeitnehmer geordnet sind. Die „Anordnungsbefugnis“ ist nur in der Lohngruppe 2.0.6 LTV NRW 2008 ausdrücklich erwähnt. Gleichwohl beträgt das hier zu zahlende Arbeitsentgelt mit 10,76 Euro Stundengrundlohn deutlich weniger als dasjenige von Beschäftigten in der Bewachung in Verkehrsmitteln des öffentlichen Personennah- und -fernverkehrs, sowie Mitarbeitern im Ordnungsdienst in Bahnhöfen nach Lohngruppe 2.0.10 LTV NRW 2008 mit 11,04 Euro Stundengrundlohn. Ersichtlich ist die Wahrnehmung einer Personalverantwortung in dieser Lohngruppe ebenso wenig erforderlich wie bei den Sicherheitsmitarbeitern mit einer Prüfung nach den Prüfungsordnungen einer IHK nach der Lohngruppe 2.0.8 LTV NRW 2008 mit 11,05 bzw. 12,08 Euro Stundengrundlohn.
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d) Ebenfalls erfolglos bleibt der Hinweis der Beklagten auf die Tarifgeschichte.
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aa) Die hier maßgebende Formulierung des Tätigkeitsmerkmales ist im LTV NRW im Jahre 2008 vereinbart worden. Sie entspricht der Formulierung in den „Vorgängertarifverträgen“ derselben Tarifvertragsparteien, zuletzt dem vom 21. März 1990 (LTV NRW 1990). In dem bis dahin geltenden Lohntarifvertrag, zuletzt vom 2. Mai 1988 (LTV NRW 1988), war eine Lohngruppe 2.0.5 aufgeführt, deren Anforderungen folgenden Wortlaut hatten:
„2.0.5
Kontrolleure sowohl des Revierwachdienstes als auch aller anderen Außendienste“
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Nach der Auffassung der Beklagten handelte es sich dabei um den „tariflichen Vorläufer“ der späteren Lohngruppe 2.0.4. Diese sei jener gegenüber lediglich „sprachlich abgewandelt“ worden, was aber „nicht den Tätigkeitscharakter veränderte“. Die Neuformulierung habe lediglich „moderner“ sein sollen, jedoch nichts an der Voraussetzung geändert, dass es um die „Kontrolle eigener Arbeitnehmer“ gegangen sei.
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bb) Diese Auffassung trägt nicht. Sie berücksichtigt nicht den Stellenwert des Wortlauts für die Auslegung eines Tarifvertrages.
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(1) Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es sich überhaupt um einen „tariflichen Vorläufer“ handelte. Die Lohngruppen 2.0.5 LTV NRW 1988 und 2.0.4 LTV NRW 1990 haben bereits verschiedene numerische Bezeichnungen, so dass bereits nicht ohne weiteres erkennbar wird, dass von dieser – neuen – Lohngruppe 2.0.4 LTV NRW 1990 dieselben Tätigkeiten – und zwar vollständig und abschließend – erfasst werden sollten wie von der Lohngruppe 2.0.5 LTV NRW 1988.
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(2) Eine entscheidende Abweichung ergibt sich aus dem Wortlaut selbst. Ist im LTV NRW 1988 noch von Kontrolleuren „des“ Außendienstes die Rede, so geht es im LTV NRW 1990 an der genannten Stelle um Kontrolleure „im“ Außendienst. Damit ist nicht mehr das Objekt der Kontrolle, sondern der Ort der Tätigkeit genannt. Es liegt nahe, aus der abweichenden Formulierung eine abweichende Regelungsabsicht zu folgern. Wenn Tarifvertragsparteien eine langjährig eingeführte Formulierung eines Tätigkeitsmerkmales zu einer dem Wortlaut nach neuen Bedeutung ändern, spricht dies zunächst dafür, dass sie auch die Anforderungen an die Tätigkeit ändern wollten; andernfalls hätte es keinen Anlass zur Änderung gegeben. Sollte insoweit nur eine „Modernisierung“ des Sprachgebrauchs ohne jede inhaltliche Änderung beabsichtigt gewesen sein, müsste sich dies aus der Änderung selbst ergeben (etwa wenn die Formulierung „Arbeiter und Angestellte“ durch den Begriff „Arbeitnehmer/in“ ersetzt wird) oder in sonstiger Weise so zum Ausdruck gebracht werden, dass das Fehlen einer Änderungsabsicht trotz bei Anwendung allgemeiner Auslegungsregeln auch inhaltlich ändernder Formulierung auch für Außenstehende erkennbar wird.
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(3) Die Heranziehung der von der Beklagten vorgetragenen „Tarifgeschichte“ verbietet sich auch aus grundsätzlichen Überlegungen.
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(a) Wegen der weitreichenden Wirkung von Tarifnormen auf die Rechtsverhältnisse von Dritten, die an den Tarifvertragsverhandlungen unbeteiligt waren, kann im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit der Wille der Tarifvertragsparteien nur dann berücksichtigt werden, wenn er in den tariflichen Normen unmittelbar einen Niederschlag gefunden hat (BAG 19. September 2007 – 4 AZR 670/06 – Rn. 32, BAGE 124, 110; 31. Oktober 1990 – 4 AZR 114/90 – BAGE 66, 177, 181). Die den Normen eines Tarifvertrages Unterworfenen müssen erkennen, welchen Regelungsgehalt die Normen haben. Zu dessen Ermittlung über den nicht zweifelhaften Wortlaut hinaus können sie nicht darauf verwiesen werden, sich Kenntnis über weitere Auslegungsmöglichkeiten zu verschaffen. So sind sie weder verpflichtet, Auskünfte ihrer Koalitionen einzuholen (BAG 19. September 2007 – 4 AZR 670/06 – aaO; 23. Februar 1994 – 4 AZR 224/93 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Kirchen Nr. 2; 7. August 2002 – 10 AZR 692/01 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Druckindustrie Nr. 39 = EzA TVG § 4 Druckindustrie Nr. 30; 22. Juni 2005 – 10 AZR 631/04 – EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 41) noch etwaige „Vorgängertarifverträge“ ausfindig zu machen. Eine solche Verpflichtung widerspräche dem Normcharakter eines Tarifvertrages. Es nähme der Gewissheit des Geltungsgrundes und des Geltungsinhalts der Tarifnormen die notwendige Sicherheit. Die Tarifvertragsparteien haben es in der Hand, eine von der Änderung des Wortlauts der Regelung des Tarifvertrages abweichende Absicht der Kontinuität des Inhalts der Regelung in einer auch für Außenstehende erkennbaren Weise zum Ausdruck zu bringen; sie müssen dies aber auch tun.
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(b) Dies zeigt sich im Streitfall mit besonderer Deutlichkeit. Die von der Revision vorausgesetzten Anforderungen an den Rechtsanwender, also die Tarifunterworfenen und ihre Prozessvertretungen sowie die Arbeitsgerichte, zur Ermittlung der maßgebenden Tarifnormen und ihrer Auslegung wären unter Zugrundelegung der Notwendigkeit einer Heranziehung der Tarifgeschichte weder gerechtfertigt noch erfüllbar. Legte man die in der Revision formulierten Anforderungen zugrunde, müsste sich ein Arbeitnehmer oder Arbeitgeber bei der Auslegung jedes – im Wesentlichen – klaren Wortlauts einer Tarifnorm, der aus sich heraus zu keinen Zweifeln und weiteren Nachforschungen Anlass gibt, fragen, ob es hierfür einen „tariflichen Vorläufer“ gegeben hat. Es müsste sodann die aktuelle Fassung des Tarifvertrages mit einem Vorläufertarifvertrag verglichen werden. Weist dieser – wie vorliegend – dieselbe Formulierung auf, müssten die früher geltenden Tarifverträge derselben Tarifvertragsparteien ausfindig gemacht – hier zB vom 9. März 2007, vom 11. Mai 2006, vom 12. April 2005, vom 13. August 2003 – und womöglich bis auf einen Tarifvertrag zurückverfolgt werden, der diese Formulierung (noch) nicht enthalten hatte. Dieser historische Tarifvertrag müsste sodann auf eine Formulierung untersucht werden, die der späteren, eben gerade nicht identischen Formulierung insoweit nahekommt (ohne mit ihr identisch zu sein), dass der Gedanke, es könne sich um eine „Vorläufer-Formulierung“ handeln, jedenfalls nicht auszuschließen ist, auch wenn numerisch eine andere Lohngruppenbezeichnung vorliegt. Sodann müsste die „Vorläufer-Formulierung“ ihrerseits ausgelegt und diese Auslegung mit derjenigen des aktuellen Tarifvertrages verglichen werden. Bei unterschiedlichen Ergebnissen gälte es abzuwägen, ob die Tarifvertragsparteien unabhängig von der – wie hier – vor vielen Jahren vorgenommenen Änderung der Formulierung und der unterschiedlichen numerischen Bezeichnung gleichwohl denselben Inhalt meinten, wie sie ihn dem Wortlaut der früheren Formulierung beigemessen haben. Welche Kriterien hierfür heranzuziehen wären (etwa die Möglichkeit, es handele sich lediglich um eine „modernere“ Formulierung), ist allerdings selbst hypothetisch kaum zu ergründen. Zu einer solchen Vorgehensweise wären bei einer Heranziehung der „Tarifgeschichte“ in der hier von der Beklagten vorgeschlagenen Form die Gerichte für Arbeitssachen auch bei klarem Wortlaut und bei Fehlen jedweder Problematisierung durch die Parteien in jedem Fall der Tarifauslegung verpflichtet. Denn die Auslegung von Tarifverträgen, auch von tariflichen Tätigkeitsmerkmalen und den dort formulierten Anforderungen, hat das Arbeitsgericht selbst vorzunehmen, ohne an Vorgaben der Prozessparteien gebunden zu sein.
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4. In der Höhe ist die Forderung ebenso unstreitig wie hinsichtlich des Zinsanspruchs. Aus dem Ende des LTV NRW 2008 und dem Inkrafttreten des LTV NRW 2009 zum 30. April/1. Mai 2009 ergibt sich nichts anderes. Zwar gilt damit für den zweiten Monat des Streitzeitraums der LTV NRW 2009 normativ. Das in diesem geregelte erhöhte Arbeitsentgelt soll aber ausdrücklich erst ab dem 1. Juli 2009 gelten. Über den Zeitraum vom 1. Mai 2009 bis zum 30. Juni 2009 enthält der LTV NRW 2009 keine ausdrückliche Regelung und auch sonst keinen Hinweis. Es ist aber davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien für den Zeitraum zwischen Inkrafttreten des LTV NRW 2009 und dem (hier zwei Monate späteren) Zeitpunkt der Erhöhung der tariflichen Vergütungen von der Weiterzahlung des Entgelts nach dem bisherigen Tarifvertrag ausgehen, da ansonsten das Arbeitsentgelt in diesem Zeitraum völlig ungeregelt bliebe. Damit ist das Arbeitsverhältnis der Klägerin jedenfalls von der nicht aufgehobenen Weitergeltung der Entgeltregelungen des LTV NRW 2008 für die Monate Mai und Juni 2009 über die individualvertragliche Verweisungsklausel erfasst. Dies haben auch die Vorinstanzen und die Parteien im Ergebnis nicht anders gesehen.
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III. Die Kosten der Revision hat die Beklagte zu tragen, weil ihr Rechtsmittel erfolglos bleibt (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Bepler
Winter
Creutzfeldt
Lippok
Pieper